Prof. G. Astrov
SIMA OSTROVSKY
(1938 - 1995)
Sima Ostrowskis Lebensweg ist beendet, doch die Empfindung seiner
kontinuierlichen schöpferischen und geistigen Anwesenheit vergeht nicht. Mit den
Jahren wird es immer deutlicher, daß er ein unverfälschtes, echtes, durch nichts
zu ersetzendes Talent ist. Mit dem Verlust solcher Künstler wie Sima Ostrowski
erweist sich das bunte und indifferente Konglomerat in bestimmtem Maße als
ramponiert und verarmt. Selbst in unserer fieberhaft unbeständigen Zeit veraltet
Sima Ostrowskis Kunst nicht - im Gegenteil, sie tritt im ganzen Reichtum ihres
bildhaften malerisch-plastischen formalen Kontextes zutage.
Seine fachliche Ausbildung erhielt Sima Ostrowski an der Leningrader Höheren
Künstlerisch-Industriellen Fachschule namens W. Muchina, die seiner kreativen
Zukunft ein stabiles Fundament legte - hoher Professionalismus, Kultur der
Malerei, der Zeichnung und des Designs, das der Petersburger Schule so eigene
Gefühl für Maß, Geschmack und Takt. Als Persönlichkeit und als Künstler
formierte er sich in der Atmosphäre des gesellschaftlichen und schöpferischen
Nonkonformismus, die für das Leningrad der sechziger und siebziger Jahre
charakteristisch war. Die Kunst war für Sima kein „Dienst", sondern Dienen, und
seiner Natur entsprechend lehnte er mit der ihm zutiefst eigenen Unduldsamkeit
gegenüber Heuchelei die offiziöse Sphäre und den sogenannten Sozrealismus ab,
die trostlose Einseitigkeit der simplen Lebensähnlichkeit und die „Richtigkeit"
der scholastischen Wissenschaft. Dieser Aufstand gegen die allgemeingültigen
Normen, seine schöpferische und weltanschauliche Unabhängigkeit führten Sima
Ostrowski mit gleichgesinnten Freunden zusammen, die er während der seinerzeit
sensationellen Ausstellungen nonkonformistischer Künstler im Haus der Kultur
namens Gas und im Haus der Kultur namens Newski gewann, aber vor allem in der
Künstlergruppe „Alef", die von E.Abesgaus, A.Okun, A.Basin, A.Gurjewitsch,
J.Kalendarjew, T.Kornfeld und anderen gegründet wurde. Die praktisch erste und
einzige jüdische Künstlervereinigung im sowjetischen Rußland proklamierte die
Idee einer Wiederbelebung der nationalen Kunst auf einer neuen, zeitgenössischen
Basis. Mit seiner Beteiligung bekräftigte Sima Ostrowski seine intensive
geistige und schöpferische Mitwirkung am Judentum, und dies wurde fürs ganze
Leben zu seinem Schicksal. Umgeben von markanten und originellen Talenten, ging
Sima Ostrowskis Stimme nicht unter.
Im Jahre 1977 wurde Sima Ostrowski in Israel eingebürgert. Der bedeutende
Wechsel seiner Lebensumstände und der schöpferischen Situation mußte bei ihm
Ausdruck finden; er arbeitet als Graphikdesigner, gestaltet einige Bücher. Das
Wesentliche bleibt allerdings nach wie vor die Malerei und Graphik als sich
selbst genügende eigenwertige Sphäre der Realisierung seines menschlichen und
künstlerischen Wesens, die nicht anfällig ist für die Versuchungen der
Kommerzialisierung.
Als Künstler des 20. Jahrhunderts war Sima Ostrowski für alle Richtungen offen.
Gleichzeitig begeisterte er sich für Pop-Art, vertiefte sich in die Klassik der
Renaissance, die phantastische Welt Marc Chagalls und das folkloristische
Element des Primitivismus, durchlief den Expressionismus, Surrealismus und noch
vieles andere - und nichts ging vorüber, ohne Spuren zu hinterlassen. Derartige
Leidenschaften und Einflüsse sind eine übliche Erscheinung, doch ungewöhnlich
sind die Resultate: Dem Künstler gelang es, sie in auffällig individueller und
eigenständiger Schaffensweise umzusetzen.
Vom Naturell her ein Phantast und Träumer, schuf Sima Ostrowski seine eigene
kreative Welt, in der reale Proportionen und räumliche Verhältnisse „auf den
Kopf gestellt sind und das Gesetz der universalen Schwerkraft seine allgemeine
Verbindlichkeit eingebüßt hat. Seine Bildersprache gründet sich nicht auf das
Illusorische der Erscheinung, sondern auf ein System komplizierter Allegorien
und Symbole, Metaphern und Sinnbilder, unverblümter und indirekter
Assoziationen; unter den Ausdrucksmitteln dominieren die zugespitzte Groteske
und paradoxe Hyperbeln. All dies hätte sich in eine gewisse Künstlichkeit der
gestalterischen Lösungen umkehren können, aber die Ironie, die der
Beschaffenheit von Charakter und Talent des Künstlers sowie seiner Denkart in
hohem Maße eigen ist, vermittelt seinen Werken innere Stimmigkeit und
Natürlichkeit. Ironie ist in diesem Fall nicht nur und vielleicht auch weniger
ein künstlerisches Verfahren als eine Komponente des gesamten Lebens und
Schaffens des Künstlers, eine Form seiner Existenz in dieser Welt. Wenn die Rede
von Sima Ostrowski ist, so tritt die ihm eigene Ironie, wie mir scheint, sowohl
auf der persönlichen wie auch auf einer allgemeineren Ebene in der Eigenschaft
eines nationalen Charakterzuges, eines Merkmals jüdischer Mentalität hervor.
Die Kunst Sima Ostrowskis, die nicht der schlichten Alltagsbeschreibung, sondern
den ewigen Fragen des Seins und der geistigen Werte entgegenstrebt, ist
mehrdeutig und vielschichtig. Das durchgehende Leitmotiv des Schachspiels
gewinnt die ambivalente Bedeutung einer plastischen Metapher der
Gegenüberstellung und der Verflechtung von Fatum und menschlichem Willen: Der
früchtetragende Garten ist das Urbild des Paradieses, und das Schwanenpaar, das
die Teppiche des Basars gleichsam verläßt, schmückt ihn mit ironischer Färbung.
Viele Figuren seiner Bilder spielen Geige, Violoncello, Balalaika, Trompete oder
ein Grammophon, und dies ist auch eine Metapher, visuelle Zeichen des Alltags
und des Seins, des Geistes und der Materie. (Rufen wir uns in Erinnerung, daß
Sima Ostrowski ein außergewöhnlich talentierter, virtuoser Musiker war und daß
die Musik in seinem Leben eine immense Rolle spielte). Indem er die vom Anfang
des Jahrhunderts ausgehende russische Tradition fortführte, nahm der Künstler
die belebenden Impulse der städtischen Folklore in sich auf - der darstellenden,
musikalischen, poetischen und vor allem der primitiven Kunst sowie des
graphischen und des gemalten bunten, naiven Bildes. An der „ästhetik des bunten
naiven Bildes" faszinierten ihn - ganz zu schweigen von der ironisch-spöttischen
Natur des Volksbildchens und seiner verschmitzten Doppeldeutigkeit - das
Karnevalsmodell der „verdrehten Welt", die Frische und Direktheit der
Wahrnehmung und das Erleben der umgebenden Wirklichkeit sowie die Unabhängigkeit
von der „Richtigkeit“ der akademischen Schule. Denkt man sich hinein und schaut
genau hin, so empfindet man in den ausgelassenen parodistischen Intonationen
eine scharfe Ablehnung des Banalen und Abgeschmackten in all ihren
Erscheinungsformen. Die Motive des graphischen bunten, naiven Bildes werden
nach einem geheimnisvollen Code von jüdischer Symbolik abgelöst, und die sowohl
für das bunte, naive Bild als auch für die jüdische Tradition charakteristische
Verbindung von Darstellung und Text wechselt, indem Buchstaben und überschriften
- hebräische, lateinische, russische - in das Bild oder die Graphik placiert
werden. In den bildlichen Kern des Werkes dringen unversehens grotesk
umgedeutete Mythologeme der Evangelien und sehr freie „Zitate“ aus der
Renaissance-Malerei ein, die sich in direkter Nachbarschaft zu konzeptuellen
Collagen mit Bankschecks und Geldnoten befinden. Wir sehen uns weder genötigt
noch in der Lage, all dies auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, doch gerade
in dieser Vielstimmigkeit tritt die Geschlossenheit von Sima Ostrowskis
schöpferischer Persönlichkeit hervor, die Vielseitigkeit seiner Begabung und
Anzeichen dafür, daß er den Unruhen unserer Zeit nicht gleichgültig
gegenüberstand. Und wiederum fühlen wir nach einem Blick hinter die sichtbaren
Dinge die dramatische Empfindung der Welt, sein nüchternes und eindringliches,
bei weitem nicht wohltuendes und idyllisches Weltverständnis.
Es ist nicht so einfach, zu definieren, was in Sima Ostrowskis Schaffen
dominierte - die Malerei oder die Graphik; ihr spezifisches Gewicht ist
gleichgroß. Zur Gemeinsamkeit dieser beiden Zweige eines einzigen
Schaffens-Baumes, zum gemeinsamen „Nervensystem“ wurde das Fundament des hohen
Professionalismus in der Malerei, der Zeichnung und der Komposition. Alles, -
wenn auch nicht alles, so doch vieles - was über Sima Ostrowskis Malerei gesagt
wurde, umfaßt auch seine Graphik. Die Zeichnung war für Sima kein Hilfsmittel
und kein „Nebenprodukt", sondern eine Art der Darstellung, die ihren Wert in
sich hat - es ist kein Zufall, daß er als Graphiker zur Kunst kam. In einer der
Rezensionen über die erste Ausstellung der Gruppe „Alef“ wurde vermerkt: „Sima
Ostrowski, der auf der Ausstellung einige interessante auf Holz ausgeführte
Arbeiten zeigte, tritt in erster Linie als Graphiker hervor - und als ein
hervorragender Graphiker. Sima Ostrowski verfügt über die verblüffende
Fähigkeit, wie in einem Atemzug die kompliziertesten Strukturen zu erschaffen
und dabei die Einheit und Unversehrtheit aller Elemente der überfrachteten
Komposition zu bewahren. Die enorme Vielfalt der Verfahren kann das Blatt
mitunter unlesbar machen. Sima Ostrowski vermeidet diese Gefahr mit Leichtigkeit
(so scheint es uns zumindest), indem er zu Ausgeglichenheit und Proportionalität
der Zeichnung gelangt. Der Verfasser stellt in all diesen Arbeiten auf groteske
Weise die rasant zerfallende, bizarre und merkwürdige, uns jedoch unendlich
bekannte Welt dar. Die gleichsam aller Illusionen enthobene Sicht, die
spöttische und bisweilen auch gallenbittere Beziehung zur Wirklichkeit, der
ironische Blick auch auf sich selbst sind meisterhaft wiedergegeben. Die bewegte
Stimme des Künstlers, seine Leidenschaft, sein aufgeregtes Temperament verleihen
seiner Graphik einen tiefen und tragischen Sinn“. Die Graphik der israelischen
Jahre entwickelte das in der Leningrader Periode Erreichte und bereicherte mit
neuen Motiven und Verfahren.
Sima Ostrowskis Leben und Schaffen gehören der Vergangenheit an. Doch das
Schicksal wahrer Künstler hat nicht eine, sondern zwei Dimensionen: Die eine ist
das irdische Dasein mit seinem Anfang und Ende, und die andere befindet sich
ohne Verjährungsfrist in ihren Werken und in der Erinnerung derer, die in der
Nähe lebten und die ihnen nachfolgen werden.
VITA
1938 - geboren in Leningrad, den 18. Oktober, in der Familie eines Ingenieur
1956 - 1962 - Hochkunstakademie im Namen von Muhina in Sankt Petersburg
1959 - 1976 - private Ausstellungen (M.Werschwowskij, P.Sokojov, A.Daion,
E.Abesgaus u.a), Sankt Petersburg
1972 - Gruppe „Alef“, Sankt Petersburg, Moskwa
1974 - Ausstellung in „Haus der Jugend“, Sankt Petersburg
1974 - Ausstellung in Kulturhaus namens P. Gasa, Sankt Petersburg
1975 - Ausstellung in Kulturhaus „Nevskij“, Sankt Petersburg
1977 - Umzug nach Israel
1977 - 1990 - persönliche Ausstellungen in Jerusalem, Haifa und Tel Aviv
(Israel)
1982 - persönliche in Helsinki (Finnland)
1986 - 1988 - persönliche Ausstellungen in Philadelphia, Long Beach, Los Angeles
(USA)
1989 - Ausstellung zusammen mit der Gruppe „Alef“ in New York
1995 - gestorben am 28. September.
(The Jerusalem Publishing Centre, 1998)